Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation \(1495 bis 1618\): Ohnmächtiger Riese

Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation \(1495 bis 1618\): Ohnmächtiger Riese
Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation (1495 bis 1618): Ohnmächtiger Riese
 
Ich glaube fürwahr« — so formulierte der aus Wendelstein bei Nürnberg stammende Theologe und Humanist Johannes Cochläus in seiner im Jahr 1512 in lateinischer Sprache publizierten »Kurzen Beschreibung Deutschlands« —, »dass kein Gebiet in Europa größeren Umfang einnimmt als Deutschland.« Er sah es im Süden bis nach Italien und Dalmatien reichen, im Osten an Ungarn und Polen grenzen, im Norden von Ost- und Nordsee eingeschlossen, im Westen vom »britischen Meer« und von Frankreich. Dieses ausgedehnte Heilige Römische Reich Deutscher Nation — wie es seit dem Ende des 15. Jahrhunderts hieß — lag im Zentrum Europas, hatte — außer im Norden — keine natürlichen Grenzen und war ein übernationales Gebilde mit einer höchst komplizierten Herrschaftsstruktur.
 
Diese Gegebenheiten hatte schon kein Geringerer als Niccolò Machiavelli, der sich im Jahr 1508 in diplomatischer Mission für seine Heimatstadt Florenz im Reich aufgehalten hatte, in seinem Bericht über den »Politischen Zustand Deutschlands« widersprüchlich beschrieben: »Die Macht Deutschlands ist groß, aber so, dass man sich ihrer nicht bedienen kann.« Einerseits empfahl der Politiker und Staatstheoretiker, dass »an der Macht Deutschlands. .. niemand zweifeln« dürfe, da es »Überfluss an Menschen, Reichtümern und Waffen« habe. Andererseits sah er die große »Uneinigkeit der Fürsten und Städte«, deren Ursache »in dem vielfach entgegengesetzten Streben« liege, »das man in diesem Lande findet«.
 
 Kaiser und Reich
 
In einem zentralen Bereich »staatlichen« Handelns lagen die Defizite offen zutage. Auf dem Wormser Reichstag 1495, dem ersten nach dem Regierungsantritt Maximilians I. (1493—1519), war es zwar zur Verkündung des »Ewigen Landfriedens« gekommen, aber es war ungeklärt, wie dieser im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation wiederhergestellt werden sollte, wenn es auf juristischem Wege über das eigens eingerichtete, ständig tagende Reichskammergericht als oberstes Reichsgericht nicht gelang, Landfriedensbruch zu bestrafen und zu beseitigen. Die zwischen Maximilian I. und den Reichsständen auf dem Wormser Reichstag ausgehandelte, umständlich »Handhabung Friedens und Rechtens« genannte Vereinbarung war keine umgehend anzuwendende Exekutionsordnung, sondern lediglich die Verpflichtung zur — mindestens — jährlichen Einberufung eines Reichstages, der die Angelegenheiten des Reiches beraten und entscheiden sollte. Sie wandte sich mehr dem Weg als dem Ziel der Wiederherstellung des Landfriedens zu und blieb wirkungslos, wie nicht nur die Aufstände von Reichsrittern wie Franz von Sickingen oder Götz von Berlichingen und die zahllosen Bauernrevolten bis zum Bauernkrieg von 1524/25 zeigen. Mit dem »Ewigen Landfrieden« von 1495, der Fehde und Eigenhilfe unter Strafe stellte, wurde dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gleichsam das alleinige Gewaltmonopol eingeräumt. Seine Anwendung aber wurde zum alles überlagernden politischen Thema im Reich und bestimmte die grundsätzliche Auseinandersetzung zwischen Römischem König bzw. Kaiser und den Reichsständen um eine mehr monarchisch-zentralistische oder eine mehr ständisch-föderalistische Ausgestaltung der Reichsverfassung. Reichsstände waren — neben Reichsstädten — mit Landbesitz, Herrschaftsgewalt, besonderen Rechten und Privilegien ausgestattete geistliche und weltliche Personen, die allein dem Kaiser unterworfen und keinem anderen Herrn verpflichtet waren. Bezeichnenderweise waren sie erstmals in Matrikeln und Reichskriegssteuer-Ordnungen zum Beispiel der Jahre 1422, 1427 oder 1471 aufgeführt. Darin wurden ihre Kaiser und Reich in Form von Truppen oder Geld zu erbringenden Leistungen im Zusammenhang der Abwehr der von den Hussiten und von den Türken ausgehenden Gefahren festgestellt.
 
 Der Reichstag
 
Ausgetragen wurden diese verfassungspolitischen Auseinandersetzungen auf dem Reichstag, der sich in den beiden letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts aus den Hoftagen der Römischen Könige und Kaiser entwickelte. Auf ihm, der zwischen 1495 und 1653/54 mehr als 40-mal in unregelmäßigen Zeitabständen an verschiedenen Orten im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zusammentrat, versammelten sich Römischer König und Kaiser und nahezu 400 höchst unterschiedliche Reichsstände. Nur wenn sich die in geistliche und weltliche Kurfürsten, geistliche und weltliche Reichsfürsten, Reichsprälaten, Reichsgrafen und Reichsstädte einzuteilenden Reichsstände und der Kaiser in reichsrechtlich verbindlichen Reichstagsabschieden über grundsätzliche oder aktuelle Fragen der Reichspolitik verständigt hatten, war das Reich als Ganzes handlungsfähig. Dies bedeutete ein Höchstmaß an reichsständischer Partizipation an der königlichen/kaiserlichen Herrschaft im Reich. Anders als die in den Jahren 1500 und 1521 den Römischen Königen Maximilian I. und Karl V. (1519—56) abgerungenen Reichsregimenter, die bereits 1502 bzw. 1530 ihre Arbeit einstellten, konnte sich der Reichstag als mitregierende Verfassungsinstitution behaupten und entwickelte sich ab 1663 von der nicht permanenten zur — in Regensburg ansässigen — immerwährenden obersten Reichsversammlung.
 
 
Aber der ständestaatliche Charakter des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation wurde nicht nur von jedem Reichstag durch seine Beratungen und Entscheidungen immer wieder neu hervorgehoben, sondern er war begründet in der Tatsache, dass dieses Reich eine Wahlmonarchie war. Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. von 1356 stellte das wichtigste, bis zum Ende des Alten Reiches im Jahre 1806 gültige Reichsgrundgesetz dar und beinhaltete zugleich seine Königswahlordnung. Nach ihr waren sieben Fürsten des Reiches, nämlich die Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier, der König von Böhmen, der Pfalzgraf bei Rhein, der Herzog von Sachsen und der Markgraf von Brandenburg, allein zur Wahl eines Römischen Königs berechtigt. Als reichsrechtlich bestimmte Kurfürsten hatten sie nach dem Tod eines regierenden Römischen Königs und Kaisers unter dem Vorsitz des Mainzer Erzbischofs, der zugleich Reichskanzler war, im Dom Sankt Bartholomäus zu Frankfurt am Main einen Nachfolger zu wählen und damit das Interregnum als königslose Zeit zu beenden.
 
Von der Wahl König Karls V. im Jahr 1519 an, der 1530 als letztes Oberhaupt des Heiligen Römischen Reiches in Bologna vom Papst zum Kaiser gekrönt wurde, hatte jeder Römische König eine Wahlkapitulation auszufertigen, einen zwischen Kurfürsten und König ausgehandelten, das Reich als Ständestaat kennzeichnenden Herrschaftsvertrag. In ihm musste der zukünftige Römische König den Kurfürsten immer wieder neu ihr freies Wahlrecht gemäß der Goldenen Bulle von 1356 bestätigen und sich verpflichten, das Heilige Römische Reich nicht in eine Erbmonarchie verwandeln zu wollen. Insgesamt wurde in den Wahlkapitulationen der Römischen Könige und Kaiser bei jeder Wahl die politische Partizipation der korporativ handelnden Reichsstände festgeschrieben, um die monarchische Macht und Gewalt des Reichsoberhauptes zu beschränken. Die sehr unterschiedlichen Rechte und Privilegien der Reichsstände sowie die Territorialstruktur des Reiches waren in den Wahlkapitulationen ebenso zu bestätigen wie das reichsständische Mitspracherecht in allen Reichsangelegenheiten, insbesondere in Fragen der Außenpolitik, bei Abschlüssen von Bündnissen, Entscheidungen über Krieg und Frieden, Maßnahmen zur Wiederherstellung des Landfriedens und Erhebungen von Reichssteuern. Ohne Zustimmung der Kurfürsten durfte ein Römischer König noch nicht einmal einen Reichstag einberufen.
 
 Die Kurfürsten als »Säulen des Reiches«
 
Überhaupt gewannen die Kurfürsten vom Ende des 15. Jahrhunderts an in dem Maße an Bedeutung, in dem sie sich ihrer gemeinschaftlichen Verantwortung für das Heilige Römische Reich als Ganzes bewusst wurden und sich — wie in der Goldenen Bulle von 1356 festgestellt — als »Säulen des Reiches« verstanden. Sie waren nicht nur in Kurvereinen (zum Beispiel von 1502/03, 1521, 1558) zusammengeschlossen, bildeten auf den Reichstagen von Anfang an einen eigenen Kurfürstenrat und versammelten sich zu Kurfürstentagen, die vor allem in der Zeit des Dreißigjährigen Krieges den nicht mehr handlungsfähigen Reichstag ersetzen konnten, sondern sie waren auch bereit, schon zu Lebzeiten eines Kaisers einen Römischen König zu seinem Nachfolger zu wählen, wenn es ihnen geboten erschien, das Reich nicht den Gefahren eines Interregnums auszusetzen. Dies geschah zum Beispiel in den innen- wie außenpolitisch unsicheren Zeiten der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, als sie 1562 zu Lebzeiten Kaiser Ferdinands I. (1556/58—64) dessen Sohn Maximilian II. (1564—76) zum Römischen König wählten und 1575 zu dessen Lebzeiten dessen Sohn Rudolf II. (1576—1612). Nachdem sich Rudolf II. seinerseits bis kurz vor seinem Tod geweigert hatte, den Kurfürsten seine Einwilligung zu einer solchen Wahl zu geben, setzten sie gleichwohl einen Wahltag an und ließen sich von König Matthias (1612—19) im Jahr 1612 in der Wahlkapitulation reichsgrundgesetzlich bestätigen, dass sie das Recht hätten, auch ohne Zustimmung eines regierenden Kaisers zu dessen Lebzeiten (vivente imperatore) einen Nachfolger zu wählen, wenn sie eine solche Wahl im Interesse des Reiches für notwendig und nützlich erachteten. Auf dem Regensburger Kurfürstentag des Jahres 1630 lehnten sie einen entsprechenden Wunsch Kaiser Ferdinands II. (1619—37) zugunsten seines Sohnes Ferdinand III. (1637—57) ab, weil sie das Haus Habsburg nicht stärken wollten, aber 1636 schritten dieselben Kurfürsten dann doch zu seiner Römischen Königswahl vivente imperatore, weil sie das Heilige Römische Reich außenpolitisch nun nicht mehr nur von Schweden (seit 1630), sondern offen auch von Frankreich (seit 1635) gefährdet sahen. Neben den Reichstagen boten die Verhandlungen zu den individuellen Wahlkapitulationen den Kurfürsten immer wieder die Möglichkeit, den ständischen Charakter des Reiches zu betonen.
 
 Um die Vormachtstellung in Europa
 
Ein so kompliziert zusammengesetztes »staatliches« Gebilde wie das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war nur auf der Grundlage des über Kompromisse herbeigeführten Konsenses zwischen König bzw. Kaiser und Reichsständen politisch handlungsfähig. In unterschiedlicher Weise mussten das alle Kaiser von Maximilian I. an erfahren, der 1508 im Dom von Trient den Kaisertitel annahm. Seine Auseinandersetzungen mit Frankreich um die Vorherrschaft in Oberitalien, insbesondere um das Herzogtum Mailand, betrachteten die Reichsstände weniger als eine Reichsangelegenheit denn als Teil der dynastischen Politik des Hauses Habsburg; sie verweigerten ihm ihre Unterstützung. Ebenso musste sein Enkel und Nachfolger Karl V. seinen Kampf mit dem französischen König Franz I. um die Vormachtstellung in Europa in vier Kriegen ohne Unterstützung des Reiches führen. In einem fünften Krieg gegen Heinrich II. in den Jahren 1552/53 sah er sich sogar reichsständischen Verbündeten des französischen Königs gegenüber.
 
 Das Reich und die Türken
 
Ganz anders verhielten sich die Reichsstände dagegen zunächst in der Frage der Abwehr der seit der 2. Hälfte des 15. Jahrhunderts immer bedrohlicher werdenden Türkengefahr, die mit der Belagerung Wiens im Jahr 1529 ihren ersten Höhepunkt erreichte. Ohne institutionell und organisatorisch darauf vorbereitet zu sein, sahen sie darin nicht nur einen Angriff auf das Reich, sondern auf die gesamte lateinisch-abendländische Christenheit, den es abzuwehren galt. Während Kaiser Karl V. vor allem in den 1530er-Jahren an einer maritimen Türkenfront im westlichen Mittelmeer zur Sicherung der Verbindungswege zwischen seinen iberischen und süditalienischen Herrschaftsbereichen aktiv wurde, hatte sein Bruder Ferdinand I., 1531 zum Römischen König vivente imperatore gewählt und gekrönt, die Kämpfe an einer kontinentalen Türkenfront östlich von Wien zu führen. Darin wurde er nach 1522 (in Kroatien) finanziell und militärisch von den Reichsständen unterstützt, die auf Reichstagen etwa für die Auseinandersetzungen der Jahre 1529, 1532 oder 1542 immer wieder Türkenhilfen bewilligten, auch noch für den Türkenfeldzug unter Kaiser Maximilian II. im Jahr 1566. Für den großen Türkenkrieg von 1592 bis 1606, den Kaiser Rudolf II. zu führen hatte, stellte das Reich allerdings nur noch Geld zur Verfügung und überließ dem Habsburger die Kriegführung. Dieses Verhalten entsprach dem grundsätzlichen Bekenntnis der Reichsstände zur Friedfertigkeit des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Sie beteiligten sich am Kampf gegen die Türken nur so lange aktiv, wie sie ihn als eine innere Angelegenheit des Reiches zur Verteidigung des seinem besonderen Schutz anvertrauten Christentums verstanden. In dem Maße, in dem das Verständnis eines inneren Krieges dem eines äußeren wich, schwand die Bereitschaft, sich an einem »Staaten«-Krieg gegen die Türken zu beteiligen, ohne dass die von ihnen ausgehende Bedrohung negiert wurde. Anders als beim Haus Habsburg, das die ständige Bedrohung seiner österreichischen Besitzungen zum Anlass nahm, über die Intensivierung der Landesverteidigung seine Herrschaft im Sinne frühmoderner Staatsbildung auszubauen, fehlte beim ständestaatlichen Reich der Konsens dazu.
 
 Landfriedenswahrung über die Reichskreise
 
Nicht der Aufbau einer nach außen gerichteten Machtposition, sondern die Bewahrung des Landfriedens im Innern war das Hauptanliegen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Gerade weil es 1495 auf dem Wormser Reformreichstag nicht zur Verabschiedung einer in der Konsequenz der übrigen Beschlüsse liegenden Reichsexekutionsordnung gekommen war, wurde diese zu einem reichspolitischen Hauptthema des 16. Jahrhunderts. Bei ihrer Ausgestaltung spielte die Frage der Berücksichtigung monarchisch-zentralistischer und ständisch-föderalistischer Vorstellungen eine entscheidende Rolle; sie wurde in der 1555 auf dem Augsburger Reichstag verabschiedeten Reichsexekutionsordnung, die im Wesentlichen bis zum Ende des Alten Reiches gültig blieb, mehr im Sinne der Reichsstände als des Kaisers beantwortet. Grundlage war die auf dem Kölner Reichstag von 1512 beschlossene Einteilung des Reiches in zehn Reichskreise, die in der Tradition der mittelalterlichen Landfriedensbezirke standen: Schwäbischer, Fränkischer, Bayerischer, Oberrheinischer, Niederrheinisch-Westfälischer, Niedersächsischer, Obersächsischer, Kurrheinischer, Österreichischer und Burgundischer Reichskreis. Als regionale Zusammenschlüsse der Reichsstände (ohne Berücksichtigung Böhmens, der italienischen Reichslehen und der Gebiete der Reichsritterschaft) sollten sie nach ihrer endgültigen Konstituierung in den 1530er-Jahren die Hauptlast bei der Wiederherstellung des Landfriedens tragen, während sie bei der Bekämpfung von Bauern- und Ritteraufständen im ersten Jahrhundertviertel noch nicht funktionsfähig waren.
 
Ihre großen Bewährungsproben bestanden die Reichskreise u. a. bei der Zerstörung des Täuferreiches im westfälischen Münster (1534/35) und im Kampf gegen Markgraf Albrecht Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach (1522—57), dessen landfriedensbrecherische Aktivitäten die Entstehung der Reichsexekutionsordnung von 1555 maßgeblich beförderten. Indem sie in einem abgestuften Verfahren, das von den Maßnahmen eines Reichskreises bis zum Zusammenwirken aller reichte, zu Exekutivorganen für das Reich wurden, erhielten sie als Friedenssicherer zugleich eine die Einheit fördernde Funktion und stellten als Bindeglied zwischen dem Reich als Ganzem und der ständisch-territorialen Ebene ein wichtiges föderatives Element dar. Landfriedenswahrung war primär eine reichsständische Angelegenheit, an der der Kaiser lediglich in seiner Eigenschaft als Erzherzog von Österreich oder Herzog von Burgund beteiligt war. Versuche, die Reichskreise im monarchischen Sinne zu instrumentalisieren, waren unter Maximilian I. und Ferdinand I. ebenso gescheitert wie die Bemühungen Karls V. von 1547, das Reich im Zuge der Organisation eines kaiserlichen Reichsbundes umzugestalten. Unübersehbar entsprach die Exekutionsordnung des Reiches seinem differenzierten und dadurch so komplizierten Gesamtgefüge, das keine vom Kaiser dominierte, nach innen wie nach außen anwendbare Kriegsverfassung erlaubte.
 
 Reichssteuern
 
So wie die Kaiser über keinerlei Reichsmilitär verfügten und damit — wollten sie nicht aus eigenen Kräften aktiv werden — in ihrer Handlungsfähigkeit von den Reichsständen abhängig waren, so war ihnen auch kein Rückgriff auf Reichsfinanzen möglich. Der vom Wormser Reichstag des Jahres 1495 beschlossene »Gemeine Pfennig« als eine jedem Untertanen im Reich auferlegte kombinierte Kopf- und Vermögenssteuer konnte sich als Reichssteuer nicht durchsetzen. Vielmehr behauptete sich zur Finanzierung von punktuell beschlossenen Reichsaktivitäten wie Türkenhilfen oder Maßnahmen zur Wiederherstellung des Landfriedens die Steuererhebung aufgrund einer Reichsmatrikel. Maßgeblich für die gesamte frühneuzeitliche Reichsgeschichte wurde die 1521 vom Reichstag verabschiedete Wormser Reichsmatrikel, in der sämtliche Reichsstände mit ihren in unterschiedlicher Höhe zu erbringenden Leistungen verzeichnet waren. Dies entsprach den sich verfestigenden territorialen Herrschaftsstrukturen innerhalb des Reiches weitaus mehr als eine Steuererhebung unter Umgehung der reichsständischen Gewalten, wie sie der »Gemeine Pfennig« vorsah. Dass das Reich im Übrigen über keinerlei Institutionen zur Erhebung und Verwaltung von Reichssteuern verfügte und zur Kontrolle der Einnahmen und Ausgaben von Matrikularbeiträgen lediglich das Amt des Reichspfennigmeisters schuf, unterstreicht einmal mehr seine rudimentäre staatliche Ausgestaltung.
 
 Die Reformation und die Einheit des Reiches
 
Zu den überaus bemerkenswerten Erkenntnissen der Reichsgeschichte gehört, dass das Heilige Römische Reich Deutscher Nation in der von Martin Luther ausgelösten Reformation und trotz der aus ihr entwickelten unterschiedlichen reformatorischen Bestrebungen seine Einheit bewahren konnte. Bei allen sich allmählich entwickelnden und politisch wirksam werdenden Gegensätzen zwischen römisch-katholischen und lutherischen Reichsständen zerbrach der Reichstag als wichtigste Verfassungsinstitution nicht. Das 1521 erlassene reichsgesetzliche Wormser Edikt, mit dem Luther in die Reichsacht erklärt wurde, verfehlte seine Wirkung und wurde bereits 1526 auf einem Reichstag zu Speyer weitgehend außer Kraft gesetzt. Die sich gegen eine Rücknahme dieser Entscheidung wendende Protestation evangelischer Reichsstände (»Protestanten«) auf einem zweiten Speyerer Reichstag im Jahre 1529 verhinderte den angesichts der Türkengefahr für 1530 nach Augsburg einberufenen Reichstag nicht. Er wurde allerdings zu einem Markstein für den Prozess der Konfessionalisierung: Der maßgeblich auf Philipp Melanchthon zurückgehenden lutherischen Confessio Augustana stellten die Anhänger der alten Kirche ihre als Widerlegungsschrift verstandene Confutatio entgegen, die aber nicht zu der von Kaiser Karl V. angestrebten Unterwerfung der Protestanten führte; außerdem legten die südwestdeutschen Reichsstädte Straßburg, Konstanz, Lindau und Memmingen mit der Confessio tetrapolitana ihre eigene Bekenntnisschrift vor, die zusammen mit dem Glaubensbekenntnis Ratio Fidei des Schweizer Reformators Ulrich Zwingli auf die Zersplitterung des Protestantismus verweist.
 
Die Wiederbelebung des Wormser Edikts vertiefte zwar die Kluft zwischen den Konfessionsparteien, zumal jeder Widerstand dagegen als Landfriedensbruch gelten sollte, führte aber ebenso wenig zur Handlungsunfähigkeit des Reiches wie der Zusammenschluss lutherischer Reichsstände unter der Führung des Kurfürsten von Sachsen und des Landgrafen von Hessen zum Schmalkaldischen Bund (1531). Angesichts der Türkengefahr kam es sogar zu einem ersten befristeten Religionsfrieden, dem Nürnberger »Anstand« (1532), der 1539 als Frankfurter »Anstand« unter Einbeziehung aller neuen Anhänger des Augsburger Bekenntnisses verlängert wurde. Und auch im Kampf gegen das Täuferreich von Münster fanden sich 1534/35 Katholiken und Protestanten zusammen. Mehrere Religionsgespräche vermochten es allerdings nicht, die theologischen Gegensätze zu überbrücken. Der schließlich unvermeidliche deutsche Religionskrieg, der Schmalkaldische Krieg von 1546/47, brachte Kaiser Karl V. und den Katholiken zwar einen militärischen Sieg, aber politisch widersetzten sich auch die altkirchlichen Reichsstände mit den Kurfürsten an der Spitze seinen Bestrebungen, die Monarchie im Reich zulasten der Reichsstände und ihrer »Libertät« zu stärken. Außerdem scheiterte er Anfang der 1550er-Jahre mit seinem Plan, seinen Sohn, den späteren spanischen König Philipp II., zum zweiten Römischen König vivente imperatore und damit zum Nachfolger Ferdinands I. — also auch zu Lebzeiten des Königs (vivente rege) — wählen zu lassen (»spanische Sukzession«).
 
 Der Augsburger Religionsfriede und seine Folgen
 
Der durch den Passauer Vertrag (1552) vorbereitete Augsburger Religionsfriede von 1555 kam ohne Beteiligung des Kaisers zustande und war das Werk König Ferdinands I. sowie einer friedliebenden Generation katholischer und lutherischer Reichsfürsten. Mit ihm wurde reichsrechtlich auf Dauer das Nebeneinander beider Konfessionen — unter Ausschluss der auf Johannes Calvin zurückgehenden Reformierten — geregelt, ohne die Hoffnung auf einen theologischen Ausgleich zwischen ihnen aufzugeben. Er stellte also eine weltliche Friedensordnung dar, die den Weg in die Verrechtlichung von Konfessionskonflikten wies. Indem den Obrigkeiten — nicht den Untertanen im Sinne individueller Glaubensfreiheit — das Recht eingeräumt wurde, die Konfession frei zu wählen (ius reformandi), verlor das Reich die Religionshoheit an die Territorialstaaten, was der lutherische Kirchenrechtler Joachim Stephani zu Beginn des 17. Jahrhunderts in die Formel cuius regio, eius religio kleidete. Damit war ein enormer Schub für den Staatswerdungsprozess auf der Ebene der Territorien verbunden, während das Heilige Römische Reich Deutscher Nation als Ganzes zu konfessioneller Neutralität verpflichtet war und einmal mehr an dieser Entwicklung keinen Anteil hatte. Um den Preis der Stärkung der Landesherrschaft blieb die Einheit des Reiches erhalten.
 
Über die unterschiedliche Interpretation des Augsburger Religions- und Landfriedens kam es in den folgenden Jahrzehnten zu zahlreichen Konflikten. Auslöser dazu war vor allem der »Geistliche Vorbehalt« (Reservatum ecclesiasticum), wonach ein geistlicher Reichsfürst Land und Herrschaft, Rechte und Einkünfte verlor, wenn er zum Protestantismus übertrat. Damit sollte die Säkularisation geistlicher Fürstentümer verhindert und der katholische Besitzstand im Reich gesichert werden, was zum Beispiel im Kölner Krieg (1583—85) oder im Straßburger Kapitelstreit (1583—1604) auch gelang. Mit den unter Führung der Jesuiten vorangetriebenen Rekatholisierungsmaßnahmen nach Abschluss des Konzils von Trient (1545—63), mit der Schaffung eines einheitlichen Lehrbekenntnisses der lutherischen Orthodoxie (»Konkordienformel« von 1577) und mit der Ausdehnung der Lehre Calvins (u. a. Kurpfalz) verschärften sich die konfessionellen Auseinandersetzungen im Reich zu einer Zeit, in der in Frankreich die Hugenottenkriege tobten. Im Zusammenhang mit politischen Fragen führten sie über den Zusammenbruch der bis dahin bewährten Reichsjustiz an der Wende zum 17. Jahrhundert schließlich auch zur Lähmung des Reichstages (1613). Mit den Zusammenschlüssen vorwiegend süddeutscher protestantischer Reichsstände in der »Union« (1608) unter kurpfälzischer Führung und katholischer Reichsstände unter der Führung Bayerns in der »Liga« (1609) formierten sich die Konfessionsparteien, die sich dann auch im Dreißigjährigen Krieg gegenüberstanden. In ihm war das Heilige Römische Reich Deutscher Nation freilich mehr Objekt als Subjekt des Geschehens, sein Raum — in Umfang und Intensität — Schauplatz bis dahin unbekannter kriegerischer Aktivitäten und unbekannten Leidens.
 
Prof. Dr. Helmut Neuhaus
 
Weiterführende Erläuterungen finden Sie auch unter:
 
Reformation und Reich bis zum Augsburger Religionsfrieden 1555: »Wenn du werest in deiner tauff ersoffen«
 
Gegenreformation und Reform im Reich: Erneuerung des Alten
 
Dreißigjähriger Krieg: Um Religion und Macht
 
 
Duchhardt, Heinz: Deutsche Verfassungsgeschichte 1495-1806. Stuttgart u. a. 1991.
 Gotthard, Axel: Konfession und Staatsräson. Die Außenpolitik Württembergs unter Herzog Johann Friedrich (1608-1628). Stuttgart 1992.
 Lutz, Heinrich: Das Ringen um deutsche Einheit und kirchliche Erneuerung. Von Maximilian I. bis zum Westfälischen Frieden. 1490-1648. Frankfurt am Main u. a. 1987.
 Press, Volker: Kriege und Krisen, Deutschland 1600-1715. München 1991.
 Rabe, Horst: Deutsche Geschichte 1500-1600. Das Jahrhundert der Glaubensspaltung. München 1991.
 Rabe, Horst: Reich und Glaubensspaltung, Deutschland 1500-1600. München 1989.
 Schilling, Heinz: Aufbruch und Krise. Deutschland 1517-1648. Sonderausgabe Berlin 1994.
 Schulze, Winfried: Deutsche Geschichte im 16. Jahrhundert. 1500-1618. Frankfurt am Main 21996.

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Поможем сделать НИР

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Heiliges Römisches Reich — Heiliges Römisches Reich,   lateinisch Sacrum Romanum Imperium, amtliche Bezeichnung für den Herrschaftsbereich des abendländischen Römischen Kaisers und der in ihm verbundenen Reichsterritorien (Deutschland, Italien [seit 951] und Burgund [seit… …   Universal-Lexikon

  • Reformation und Reich bis zum Augsburger Religionsfrieden 1555: »Wenn du werest in deiner tauff ersoffen« —   Martin Luther   Bis 1517 hatte er in der Studierstube gekämpft, der junge Mönch Martin Luther gegen seine »Anfechtungen«, wie er zu sagen pflegte. Was Luther umtrieb, war vor allem die Frage der Heilsgewissheit: Kann ich Gottes Forderungen… …   Universal-Lexikon

  • Dreißigjähriger Krieg: Um Religion und Macht —   Fenstersturz mit Folgen   Das war kein Unglücksfall, kein zufälliges Ereignis, dass am 23. Mai 1618 mit Jaroslaw Graf von Martinitz und Wilhelm Graf von Slawata zwei der Statthalter des Königs von Böhmen aus den Fenstern der Prager Burg… …   Universal-Lexikon

  • Kaiser — Kai|ser [ kai̮zɐ], der; s, : oberster Herrscher (in einer bestimmten Staatsform): er wurde zum Kaiser gekrönt. Syn.: ↑ Monarch, ↑ Regent. * * * Kai|ser 〈m. 3〉 1. 〈im antiken Rom〉 (Beiname des Alleinherrschers) 2. 〈danach〉 2.1 höchster Adelstitel… …   Universal-Lexikon

  • Reformation — Umorientierung; Neuorientierung; geistige Umgestaltung; Erneuerung; Verbesserung; Neuausrichtung * * * Re|for|ma|ti|on 〈f. 20〉 I 〈unz.; i. e. S.〉 die durch Luther, Zwingli u. Calvin ausgelöste Bewegung zur Erneuerung der Kirche, wodurch die… …   Universal-Lexikon

  • Türkenkriege — I Tụ̈rkenkriege,   die Kriege der europäischen christlichen Staaten gegen das in Südosteuropa eingedrungene und nach Westen ausgreifende islamische Osmanische Reich. In die Auseinandersetzungen waren neben Österreich, das sich im 1526 ererbten… …   Universal-Lexikon

  • Habsburger — I Habsburger   Die Voraussetzungen für den Aufstieg des Hauses Österreich zu europäischer Großmachtstellung schuf Kaiser Friedrich III. durch die Eheverbindung seines Sohnes Maximilian mit Maria, der Erbin Herzog Karls des Kühnen von Burgund… …   Universal-Lexikon

  • Augsburger Religionsfriede — Augsburger Religionsfriede,   am 25. 9. 1555 nach Verhandlungen zwischen König Ferdinand I. und den Reichsständen auf dem Augsburger Reichstag als Reichsgesetz für das Heilige Römische Reich verkündet. Den Anhängern des Augsburg. Bekenntnisses… …   Universal-Lexikon

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”